Schuman-Tag 2020 – was der europäischen Gedanke für mich bedeutet
Wie bei vielen anderen auch hat mein persönlicher Werdegang meine politischen Überzeugungen geprägt.
Mein Interesse und mein Engagement für den europäischen Gedanken – persönlich wie beruflich – geht auf die Zeit zurück, als ich im Alter von 17 Jahren, noch unter dem Franco-Regime, ein Stipendium erhielt, um einen Aufsatz über die Aussichten Spaniens auf einen Beitritt zum damaligen „Gemeinsamen Europäischen Markt“ zu schreiben. Für mich und meine Generation, die wir in Spanien unter einer Militärdiktatur lebten, war Europa ein Symbol für Hoffnung, Fortschritt, Demokratie, Freiheit und Solidarität.
Als ich die ersten Male die Grenzen meines Heimatlandes überquerte – was damals lange nicht so einfach war wie heutzutage – tat ich dies als Student wegen verschiedener Sommerjobs, etwa um in Dänemark in der Landwirtschaft, in Deutschland im Bausektor oder in Großbritannien in der Gastronomie zu arbeiten oder auch in Frankreich bei der Traubenernte zu helfen. Das Reisen durch Europa hat mir neue Perspektiven, neue Freiheiten und die Möglichkeit eröffnet, neue Chancen wahrzunehmen.
Nach dem Abschluss meines Studiums an der Polytechnischen Universität von Madrid arbeitete ich im Sommer 1969 in einem Kibbuz und reiste durch ganz Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete – von den Golanhöhen bis nach Eilat. So kam ich erstmals mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt in Berührung. Es war eine Mahnung, wie tragisch die menschliche Geschichte doch ist und dass wir ihr entkommen müssen. Auch dies ist Teil unserer Motivation als Europäerinnen und Europäer.
Die Geschichte Europas ist eine Geschichte des Kampfes um Grenzen. Millionen Menschen sind dafür gestorben. Grenzen sind die Wundmale der Geschichte. Das Herausragende am europäischen Integrationsgedanken bestand darin zu sagen, dass wir nicht länger um Grenzen kämpfen, sondern uns stattdessen darauf konzentrieren, sie bedeutungslos werden zu lassen. Tatsächlich ist die EU zum Weltmeister im Beseitigen von Grenzen geworden. Leider gibt es heute in vielerlei Hinsicht wieder mehr Mauern auf der Welt als damals, als die Berliner Mauer fiel.
Es ist frappierend und schmerzlich, dass wir derzeit in einem Europa leben, in dem Grenzen wieder sehr präsent sind, da sie seit über einem Monat für die Menschen geschlossen bleiben. Es gab und gibt nach wie vor zwingende Gründe dafür. Aber ich sehne mich danach, dass wir alle wieder offene Grenzen haben und durch Europa reisen können – sobald es die Umstände zulassen.
Der 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung ist der Anlass, um sich darauf zu besinnen, welche Grundsätze Europa eigentlich ausmachen, nämlich Frieden und Demokratie, die Überwindung der Geschichte, internationale Solidarität und offene Grenzen. Wir müssen mit Weitblick denken und handeln. Wie Schuman in seiner Erklärung so treffend formulierte:
„Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.“
Schuman dachte dabei nicht kleingeistig. Er war auch nicht in alten Denkweisen gefangen. Das von ihm auf den Weg gebrachte Vorhaben ist ein beeindruckender Erfolg. Es ermöglichte einem in Trümmern liegenden Europa, wieder an sich zu glauben und sich wieder zu erheben; von sechs Gründungsmitgliedern auf 12, 15 und heute 27 Mitgliedstaaten anzuwachsen; sich von einer Gemeinschaft für Kohle und Stahl zu einem gemeinsamen Markt, zu einer politischen Union zu wandeln mit der Ambition, ein echter geopolitischen Akteur zu werden.
Ja, es gibt viele Gründe für Kritik. Wir müssen beweisen, dass Solidarität kein leeres Wort ist und dass wir es ernst meinen mit einem Europa, das schützt. Der Schutz ist die oberste Regierungspflicht, und die EU muss bei der Bekämpfung des Coronavirus und der Erholung nach der Pandemie eine zentrale Rolle übernehmen. Nach einem unglücklichen Start hat die EU nun alle Kräfte mobilisiert. Am Ende dieser Krise wird das europäische Ideal daran gemessen werden, wie die Bürgerinnen und Bürger diese einfache Frage für sich beantworten: „Hat mich die Europäische Union geschützt?“
Im Wesentlichen muss sich Europa gleichzeitig drei Herausforderungen stellen: Erstens müssen wir die Gesundheitsversorgung als Teil unseres sicherheitspolitischen Denkens und Herangehens an die europäische Souveränität begreifen. Zweitens müssen wir eine starke, abgestimmte und einfallsreiche Antwort finden, um den Zusammenbruch unserer Volkswirtschaften zu verhindern. Und drittens muss Europa eine Führungsrolle bei den koordinierten weltweiten Anstrengungen zur Bekämpfung der Pandemie übernehmen. Es liegt auf der Hand, dass Länder im Alleingang nicht erfolgreich sein werden.
Inzwischen seit Wochen haben unsere Regierungen die Volkswirtschaften zu unserer Sicherheit bewusst heruntergefahren. Die schwerwiegenden wirtschaftlichen Konsequenzen sind nicht die Folge einer Gesundheitskrise, sondern der zu deren Vermeidung getroffenen Maßnahmen. Das ist einmalig in unserer Geschichte. Diese beispiellosen Umstände treffen die Länder in sehr unterschiedlichem Maße, was zu Spannungen innerhalb Europas und weltweit führen könnte. Die Schlagwörter heutzutage sind Gesundheitssicherheit, Resilienz, strategische Autonomie, Multilateralismus und umweltverträglicher Aufschwung.
Unsere Welt ist heute völlig anders als zu Zeiten der Schuman-Erklärung. Wir sind in 70 Jahren weit vorangekommen und haben viele Krisen überwunden.
Wie wird die EU in 70 Jahren aussehen? Das wird von den Entscheidungen abhängen, die wir heute treffen.
Ich, der europäische Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen miterlebt hat, bin davon überzeugt, dass wir mit demselben Weitblick und derselben Kreativität wie Schuman denken – und in diesem Geiste handeln sollten.
Weitere Blogeinträge des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell
Siehe auch
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