In rauer See sollten unsere eigenen Interessen und Werte unser Kompass sein
Frei nach Frank Sinatras „My Way“ müssen wir Europäer unseren eigenen Weg gehen. Dazu gehört auch, dass wir uns das multilaterale System als einen Raum der Zusammenarbeit bewahren, auch wenn Großmächte es zunehmend als Schlachtfeld nutzen.
Bisher als rein technisch und nicht als „hohe Politik“ geltende Dinge, wie Investitionen und Handel, Technologien und Währungen, sind nun Gegenstand offener Konkurrenz oder gar Konfrontation. Bisher verlässlich solide Dinge, wie Fakten und Wissenschaft, werden nun in Frage gestellt und sind Teil von Narrativen, die durch die sozialen Medien verstärkt werden.
Für die EU ist es nicht immer einfach, in zunehmend schwierigem Fahrwasser die Balance zu wahren. Wir sollten mit klarem Blick – ohne Naivität oder Nostalgie – überlegen, wie wir am besten darauf reagieren können. Diese Woche brachte gute Beispiele dafür, was dies bedeutet.
In den Beziehungen zwischen der EU und China muss das richtige Gleichgewicht gewahrt werden
Am Dienstag traf ich im Rahmen des strategischen Dialogs zwischen der EU und China meinen chinesischen Amtskollegen, den Außenminister Wang Yi, einen außerordentlich erfahrenen Diplomaten. Drei Stunden lang haben wir intensiv diskutiert und hatten dabei einen sowohl offenen als auch nützlichen Meinungsaustausch.
China spielt in der Weltpolitik eine immer wichtigere Rolle, weshalb wir großes Interesse an einer Zusammenarbeit in den vielen Fragen haben, in denen dieses Land von zentraler Bedeutung ist – von der Erholung von der Pandemie bis hin zum Klimawandel und zu einer nachhaltigen Konnektivität. All dies und vieles mehr ist Inhalt der umfangreichen und konstruktiven Agenda für die Zusammenarbeit zwischen der EU und China.
Auch wollen wir mit China in den Bereichen zusammenarbeiten, in denen wir zwar auseinanderliegen, durch unvoreingenommene Verhandlungen jedoch gute Ergebnisse für beide Seiten erzielen können, wie etwa beim Marktzugang und bei den Verhandlungen über ein bilaterales umfassendes Investitionsabkommen. Diese Verhandlungen laufen seit Jahren und ich hoffe, dass wir sie so bald wie möglich zum Abschluss bringen können, um die derzeitige Situation der asymmetrischen Offenheit zu beenden. Von der Auftragsvergabe über 5G bis hin zum E-Commerce und den Finanzdienstleistungen fehlt es an gleichen Wettbewerbsbedingungen und Gegenseitigkeit.
Auch wir müssen unsere Hausaufgaben in diesem Bereich machen: Dazu gehören bereits bestehende oder in Entwicklung befindliche Maßnahmen zur Überprüfung von Investitionen, zur Gegenseitigkeit im öffentlichen Auftragswesen, zur Diversifizierung von Lieferketten oder zur Bevorratung strategischer Produkte. Es geht vor allem darum, Europa für den Umgang mit einem geopolitischen Umfeld fit zu machen, das zunehmend durch Konkurrenzdenken geprägt ist.
Wir erörterten auch den Schuldenerlass für Afrika, wo es begrüßenswert wäre, wenn die chinesische Seite mehr Anstrengungen unternehmen würde.
Gleichzeitig stehen unsere Beziehungen ihrem Wesen nach bei einigen Aspekten eher im Wettstreit, weil es zwischen unseren Werten und politischen Systemen fundamentale Unterschiede gibt. Auch das habe ich mit dem Außenminister besprochen. Zu Hongkong und ganz allgemein zu den Menschenrechten haben beide Seiten ihren Standpunkt dargelegt – hier hat sich an den Unüberbrückbarkeiten nichts geändert.
Unsere Beziehungen zu China sind komplex und vielschichtig, daran führt kein Weg vorbei. Der Ausdruck „Systemrivale“ hat viel Aufmerksamkeit bekommen, vielleicht eher der „Rivale“ als das „System“. Aber das bedeutet nicht, dass wir systematisch den Weg der Rivalität einschlagen wollen.
Desinformation und die Herausforderung für demokratische Gesellschaften
Ein weiterer Bereich, der von Gegensätzen geprägt ist, ist die Desinformation. Am vergangenen Mittwoch haben wir gemeinsam mit Kommissionsmitglied Věra Jourová eine Gemeinsame Mitteilung über Desinformation vorgelegt.
Der Informationsraum gleicht zunehmend einem Schlachtfeld, auf dem Krieger eher Tastaturen als Schwerter schwingen. Die Coronavirus-Pandemie ging mit einer massiven Infodemie einher. Wir erleben eine Welle falscher und irreführender Informationen und gezielter Einflussnahme ausländischer Akteure, die darauf abzielen, die EU und ihre Mitgliedstaaten zu schädigen.
Der Europäische Auswärtige Dienst bekämpft seit 2016 die auf ausländische Quellen zurückzuführende Desinformation. Zu Beginn stand vor allem Russland im Fokus. Mittlerweile betätigt sich neben anderen auch China auf diesem Feld – auch dieses Thema haben wir nicht ausgelassen. Wir unterstrichen, dass unsere demokratischen Systeme vor dieser Art von Bedrohung geschützt werden müssen.
Wir müssen im Dreieck EU-USA-China auf Kurs bleiben.
Wir werden auch mit den Vereinigten Staaten weiterhin Gespräche führen und an diesen Fragen arbeiten. An diesem Montag wird Außenminister Pompeo per Video an der Tagung der EU-Außenminister teilnehmen. Sicherlich werden die Themen China und Desinformation einen wesentlichen Teil der Gespräche ausmachen.
Die transatlantischen Beziehungen sind für uns in Europa nach wie vor von entscheidender Bedeutung – ihr Fundament sind die Werte, die wir teilen. Diese Beziehungen stehen derzeit aber ebenfalls unter Druck und müssen Belastungen aushalten. Die Trump-Regierung hat einseitig Entscheidungen getroffen, mit denen wir nicht immer einverstanden sind.
Doch einige der grundlegenden Veränderungen sind nicht allein auf die derzeitige US-Regierung zurückzuführen. So ist der Weg der globalen Konkurrenz in den Beziehungen zwischen den USA und China vorgezeichnet, unabhängig davon, wer im nächsten Januar im Weißen Haus sitzt. Diese Konfrontation wird den Rahmen für die künftige Weltordnung bilden.
Vor diesem Hintergrund muss sich die EU positionieren. Die Spannungen zwischen den USA und China, die zu einem Dreh- und Angelpunkt der Weltpolitik geworden sind, erhöhen den Druck, sich für eine Seite zu entscheiden. Viele Medienkommentare sowohl zum Strategischen Dialog als auch zum Desinformationspaket waren alles andere als sachlich.
Es ist kein Geheimnis, dass die 27 Mitgliedstaaten unterschiedliche Auffassungen über die beste Vorgehensweise haben. Einige drängen auf Annäherung, andere darauf, Distanz zu beiden Seiten zu wahren. Als Hoher Vertreter auf der Suche nach einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik kenne ich diese Dynamik nur zu gut.
Wir sollten einen strategischen Ansatz verfolgen, d. h. wir müssen unsere eigenen Interessen und Werte hochhalten und verteidigen. Unser Kompass dürfen nicht die Erwartungen oder der Druck von außen sein, sondern muss das sein, was wir als EU wollen und benötigen.
Eine Möglichkeit, darüber nachzudenken, ist die von einigen Medien beschriebene „Sinatra-Doktrin“. Wir als Europäer müssen unseren eigenen Weg gehen – mit all den Herausforderungen, die dies mit sich bringt. Natürlich bedeutet der europäische Weg die Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten, damit das multilaterale System als ein Raum für die Zusammenarbeit erhalten bleibt, auch wenn Großmächte diesen Raum zunehmend als Schlachtfeld nutzen.
Darauf warten, bis der Sturm vorbeigezogen ist, ist keine Option. Die Zugehörigkeit zur Europäischen Union bedeutet, dass wir gemeinsam durch diese Wasser steuern. Wir sollten unser Schiff auf Kurs halten und uns an unseren Interessen orientieren.
Einige mögen sagen, dass Schiffe im Hafen am sichersten sind. Aber dorthin gehören Schiffe eigentlich nicht.
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