Metaphern und Geopolitik
„Sollte die Welt von einer regelbasierten Ordnung oder vom ‚Gesetz des Dschungels‘ bestimmt sein?“
Die Metaphern vom „Garten“ und vom „Dschungel“ stammen nicht von mir. Manche lehnen diese Metaphern kategorisch ab, denn sie werden auch von amerikanischen Neokonservativen verwendet; ich bin allerdings von politischem Gedankengut dieser Art weit entfernt. Tatsächlich ist dieses Konzept bereits seit Jahrzehnten Bestandteil des akademischen politischen Diskurses. Es geht um eine einfache Frage, die sich uns Tag für Tag stellt: Sollte die internationale Ordnung auf Grundsätzen beruhen, die von allen anerkannt werden, unabhängig von der Stärke ihrer Akteure, oder auf dem Willen des Stärkeren – gemeinhin bekannt als „Gesetz des Dschungels“?
Bedauerlicherweise erinnert die Welt, in der wir heute leben, mehr und mehr an einen „Dschungel“ und immer weniger an einen „Garten“, denn in vielen Teilen der Welt ist das „Recht des Stärkeren“ im Begriff, die vereinbarten internationalen Normen zu verdrängen.
Diese Entwicklung ist beunruhigend für alle, auch für Europäerinnen und Europäer. Werfen wir doch einen Blick zurück auf die Geschichte: Das Projekt der Europäischen Integration setzt von Anbeginn auf eine Ablehnung der Machtpolitik. Es ist uns gelungen, das Machtkalkül durch rechtliche Verfahren zu ersetzen. Aus diesem Grund habe ich vom „europäischen Garten“ gesprochen: Dank der Union sind ehemalige Kriegsparteien in einem stabilen Frieden und in Zusammenarbeit durch die gemeinsame Verpflichtung zur Wahrung von Recht und Ordnung geeint.
Doch nun ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt; überall auf der Welt sehen wir Zeichen eines geopolitischen Wandels. Wir leben in einer Welt der Machtpolitik, in der gegenseitige Abhängigkeiten als Kriegsmittel instrumentalisiert werden und immer mehr Länder ihre Interessen durch die Anwendung von Gewalt, Einschüchterung und Erpressung durchzusetzen versuchen. Als ich von einem „Dschungel“ sprach, habe ich mich auf die Ausbreitung von Willkür und Chaos in der Welt bezogen. Ich habe das Wort „Dschungel“ ohne jegliche rassistische, kulturelle oder geografische Konnotation verwendet. In der Tat und traurigerweise ist dieser „Dschungel“ inzwischen überall, nun auch in der Ukraine. Wir müssen diese Entwicklung erst nehmen. Das war meine Botschaft an die Studierenden. Wir sollten auf keinen Fall der trügerischen Sicherheit von Mauern und Isolationismus verfallen.
Einige haben meine Metapher als „kolonialen Eurozentrismus“ missverstanden, und es tut mir leid, wenn ich dadurch jemanden verletzt habe. Ich bin der Überzeugung – und habe das beispielsweise auch letzte Woche vor den EU-Botschafterinnen und ‑Botschaftern gesagt –, dass wir oft zu eurozentrisch sind, dass wir Zurückhaltung üben und die Welt, auch den Globalen Süden, besser kennenlernen müssen. Ich habe mich stets gegen das Konzept der „Festung Europa“ ausgesprochen und für die Förderung der Beziehungen zu anderen Teilen der Welt stark gemacht.
Ich habe auch genug Erfahrung, um zu wissen, dass weder Europa noch „der Westen“ perfekt sind und dass einige Länder dieses „Westens“ schon gegen internationales Recht verstoßen haben.
Das Problem, vor dem wir Europäerinnen und Europäer heute in erster Linie stehen, ist jedoch der Angriff Russlands auf die Souveränität der Ukraine und das Völkerrecht. Es ist beruhigend, dass die überwältigende Mehrheit in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Russlands Handeln in der vergangenen Woche so klar verurteilt hat. Das zeigt, dass viele auf der Welt für eine regelbasierte Ordnung sind – nicht für das Recht des Stärkeren. Die „Gärtner“, das heißt all jene auf der Welt, die am Aufbau einer friedlichen, gesetzlichen Ordnung interessiert sind, sollten sich also zusammenschließen und zusammenarbeiten, um den „Dschungel“ zu bezwingen.
Ich war und bin zeit meines Lebens absolut gegen jede Form der Verachtung und des Rassismus. In meiner derzeitigen Position versuche ich, Europäerinnen und Europäern, den Studierenden in Brügge und EU-Botschafterinnen und ‑Botschaftern zu vermitteln, dass wir uns nicht in unserer von relativem Wohlstand geprägten Welt verschanzen dürfen, dass wir nicht versuchen sollten, diese Welt mit Mauern zu schützen. Vielmehr müssen wir uns stärker und offenen Herzens auf die Welt außerhalb Europas einlassen und sie so sehen, wie sie tatsächlich ist – und nicht, wie sie aus eurozentrischer Sicht erscheint.
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