Aufbauplan: Europas Rolle in der Welt steht auf dem Spiel
Der Vorschlag für den EU-Haushalt mitsamt dem Instrument „Next Generation EU“ ist nicht nur eine Reaktion auf interne Notlagen innerhalb der Union; er ist auch für unsere Glaubwürdigkeit und unseren Einfluss in der Welt von entscheidender Bedeutung.
Angesichts des Umfangs und der Bedeutung des Vorschlags stehen schwierige politische Diskussionen ins Haus. Wird der Vorschlag angenommen, so wird die EU über erhebliche zusätzliche Mittel verfügen, um den durch die Coronavirus-Pandemie verursachten sozialen und wirtschaftlichen Schaden zu beheben und sich auf unsere wichtigsten Zukunftsaufgaben: Bekämpfung des Klimawandels und die digitale Revolution. Wir müssen den Schaden, den diese Krise kurzfristig verursacht, auf eine Art überwinden, die auch unserer langfristigen Zukunft zugutekommt.
Vorschlag von historischer Relevanz
Wir dürfen nicht vergessen, dass die südeuropäischen Länder, die am stärksten von den Folgen der Coronavirus-Pandemie betroffen sind, noch viele Narben aus der Finanzkrise tragen. Infolgedessen verfügen sie über weniger Mittel zur Unterstützung ihrer Bevölkerung und zur Wiederankurbelung ihrer Wirtschaft. In diesem Zusammenhang ist die im Zusammenhang mit dem Plan „Next Generation EU“ vorgeschlagene verstärkte haushaltspolitische Solidarität von historischer Bedeutung.
Die vorgeschlagene Europäische Aufbau- und Resilienzfazilität mit einem Volumen von 560 Mrd. EUR wird im Einklang mit den Prioritäten der EU finanzielle Unterstützung für Investitionen und die Stärkung der Widerstandsfähigkeit der nationalen Volkswirtschaften bieten. Diese Unterstützung wird zwar allen Mitgliedstaaten offenstehen, der Schwerpunkt wird jedoch auf den am stärksten betroffenen Ländern liegen, in denen der Resilienzbedarf am größten ist.
Aufstockung des Pakets für Maßnahmen im Außenbereich auf insgesamt 118 Mrd. EUR
Dieser Vorschlag ist allerdings nicht nur eine Reaktion auf Notlagen innerhalb der Union; er ist auch für unsere auswärtige Politik von Bedeutung. Der vorgeschlagene MFR sieht zusätzliche 15,5 Mrd. EUR für Maßnahmen im Außenbereich und damit ein Gesamtvolumen von 118 Mrd. EUR für den Zeitraum 2021-2027 vor. Er bietet deutlich mehr Mittel für die humanitäre Hilfe, für die Unterstützung unserer Partner und für die Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit.
Darüber hinaus sind nach früheren Kürzungen 8 Mrd. EUR für den Europäischen Verteidigungsfonds und auch 8 Mrd. EUR für die Europäische Friedensfazilität vorgesehen (bei letzterer handelt es sich um einen außerbudgetären Fonds, d.h. er ist nicht Teil des MFR). Der Europäische Verteidigungsfonds wird uns in die Lage versetzen, die gemeinsame Forschung und Entwicklung im Hinblick auf die erforderlichen Verteidigungsfähigkeiten in Europa zu intensivieren. Mit Hilfe der Europäischen Friedensfazilität werden wir die Rolle Europas als Sicherheitsgarant stärken können. Dazu gehört auch die Unterstützung unserer Partner durch Schulungen, Beratung und mitunter die Lieferung militärischer Ausrüstung. Beide sind für die Glaubwürdigkeit Europas von zentraler Bedeutung.
Verknüpfung des inneren Zusammenhalts Europas mit seiner externen Rolle
Der vorgeschlagene Aufbauplan wird aber auch anderweitig zur Stärkung unseres auswärtigen Handelns beitragen. Unsere Fähigkeit, den durch die Coronavirus-Pandemie verursachten großen Schock zu überwinden, wird Europas Stellung in der Welt erheblich beeinflussen.
Dieser neue Schock kommt erst 10 Jahre nach der Staatsschuldenkrise. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des vergangenen Jahrzehnts und die innenpolitischen Debatten haben die Position Europas in der Welt geschwächt. In diesem Zeitraum gab es viele nach innen gerichtete Debatten, während die Spannungen und Konflikte an unserer Peripherie – in der Ukraine, in der Sahelzone, in Syrien und Libyen usw. –, zunahmen und Mächte mit anderen Werten als wir ihre globale Position ausbauten. Die Konzentration der EU auf interne Probleme hat es diesen Mächten erleichtert, zu versuchen, die Union zu spalten, und unsere Fähigkeit, einen gemeinsamen Ansatz zu entwickeln, eingeschränkt.
Es ist wichtig, solche internen Auseinandersetzungen und einige Fehler aus der früheren Krise nicht zu wiederholen. Wir müssen diese Krise gemeinsam überwinden: Nur so können wir verhindern, dass unsere Glaubwürdigkeit untergraben und unsere Position geschwächt wird.
Zu Beginn der Coronakrise hatten wir erhebliche Schwierigkeiten bei der Koordinierung der nationalen Gesundheitspolitik. Die EU und die Mitgliedstaaten haben jedoch inzwischen eine starke wirtschaftliche und soziale Antwort auf die Pandemie gegeben. Obwohl viele Unternehmen und Bürger auf ernsthafte Schwierigkeiten gestoßen sind, haben die umfassenden sozialen Sicherungsnetze in Europa, die überall in der Welt einzigartig sind, die unmittelbaren Auswirkungen der Krise besser abgefedert als anderswo.
Dennoch, und hier der Sinn von Next Generation EU, ist die Krise längst nicht überwunden: Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, viele Länder und Sektoren werden sich nur langsam erholen und die Gefahr einer zweiten Welle wird die Wirtschafts- und Investitionstätigkeit behindern. All dies in einer Zeit, in der wir den Wandel unserer Volkswirtschaften beschleunigen müssen, um den enormen Herausforderungen des Klimawandels und der digitalen Revolution zu begegnen.
Globales Kräftegleichgewicht
Mit der Initiative Next Generation EU können wir nicht nur zeigen, dass unser Sozialmodell es uns ermöglicht hat, die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie zu begrenzen, sondern auch, dass diese Krise unseren Zusammenhalt und unsere Solidarität gestärkt und uns gleichzeitig veranlasst hat, beträchtliche Ressourcen zu mobilisieren und uns besser auf künftige Herausforderungen vorzubereiten.
Vor dem Hintergrund der derzeitigen Spannungen zwischen China und den Vereinigten Staaten gibt es einen weltweiten Kampf der Narrative, ein Kampf um Einfluss durch schiefe Debatten darüber, wer bei der Bewältigung der Coronavirus-Pandemie am erfolgreichsten war.
Kurz gesagt, wenn uns die Erholung gelingt, werden wir nicht nur unsere Union im Inneren festigen, sondern auch Europas Glaubwürdigkeit nach außen und ihre Stellung in der Welt stärken.
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