Europa darf in der Welt nicht nur eine Statistenrolle spielen. Wir benötigen einen „strategischen Kompass“.
„Geostrategische Entwicklungen zwingen Europa zum Handeln. Wir müssen die Erkenntnis, dass Europa nicht nur eine Statistenrolle spielen darf, in konkrete Maßnahmen umsetzen.“
Weniger als ein Monat liegt zwischen dem Rückzug aus Afghanistan und der Ankündigung des Verteidigungsabkommens zwischen Australien, dem Vereinigten Königreich und den USA (AUKUS). Diese Ereignisse haben die Debatte über die globale Rolle Europas angeheizt und beschleunigt. Aus diesem Grund war es richtig, dass wir auf Führungsebene eine Diskussion über die Auswirkungen – und die Entscheidungen, die wir nun treffen müssen – geführt haben.
Auf der informellen Tagung des Europäischen Rates habe ich betont, dass grundsätzlich zwei Haltungen möglich sind. Wir können entweder unsere Köpfe in den Sand stecken und Gründe finden, um die Bedeutung geostrategischer Entwicklungen herunterzuspielen, oder behaupten, dass sie nur bestimmte EU-Länder betreffen. Oder aber einsehen, dass sich bedeutende Verschiebungen vollziehen und dass wir handeln müssen, wenn wir nicht in einer Weltordnung leben wollen, die wir nicht mitgestalten können.
In der Tat gibt es zwei bedeutende Trends, die sich zunehmend auf uns auswirken. Erstens erleben wir eine verstärkte Reaktion auf das Aufstreben und die Durchsetzungsfähigkeit Chinas, wofür das AUKUS als gutes Beispiel dient. Zweitens beobachten wir eine multipolare Dynamik: Akteure wie Russland und andere versuchen, ihren Handlungsspielraum und Einflussbereich entweder auf regionaler oder globaler Ebene zu erweitern. Sie handeln oftmals zum Nachteil der Werte und Interessen der EU, wie wir in Syrien, Libyen, Mali und anderswo sehen.
„Europäische Bürgerinnen und Bürger laufen Gefahr, zunehmend zu einem Objekt und nicht zu einem Akteur in internationalen Angelegenheiten zu werden und nur auf Entscheidungen anderer zu reagieren statt das Geschehen selbst voranzutreiben und zu gestalten.“
Dies hat zum Ergebnis, dass europäische Bürgerinnen und Bürger heute Gefahr laufen, zunehmend zu einem Objekt und nicht zu einem Akteur in internationalen Angelegenheiten zu werden und nur auf Entscheidungen anderer zu reagieren statt das Geschehen selbst voranzutreiben und zu gestalten. Dabei stellt sich folgende Frage: Was wollen wir dagegen tun? Geben wir uns als Europäische Union damit zufrieden, eine Art regionaler Akteur zu bleiben, der seinen Schwerpunkt auf die wirtschaftliche und normative Macht legt und für den das Weltgeschehen und die Hard Power zu kompliziert sind? Oder sind wir der Ansicht, dass nichts umsonst ist, d. h. dass auch Passivität einen hohen Preis hat?
„Wir sollten nicht unserem Hang nachgeben, eine abstrakte und klar polarisierende Debatte darüber zu führen, ob wir entweder Europas eigene Sicherheitskapazitäten oder die innerhalb der NATO ausbauen sollten. Wir müssen eindeutig beides tun.“
Diese Fragen haben wir natürlich bereits seit Jahren erörtert. Aus diesem Grund sollten wir nicht unserem Hang nachgeben, eine abstrakte und klar polarisierende Debatte darüber zu führen, ob wir entweder Europas eigene Sicherheitskapazitäten oder die innerhalb der NATO ausbauen sollten. Wir müssen eindeutig beides tun. Je stärker wir als EU werden, desto stärker wird die NATO.
Auf der informellen Tagung des Europäischen Rates haben sich die Führungsspitzen darauf geeinigt, dass konkrete Fortschritte bei der Stärkung der globalen Rolle Europas erzielt werden müssen. Ihre Leitlinien beziehen sich auf unsere Arbeit im Bereich der Sicherheit und Verteidigung, die Beziehungen zu den USA und unsere strategische Haltung im indopazifischem Raum. Konkret sehe ich vier Handlungsschwerpunkte:
- Die oberste Priorität besteht darin, sowohl unsere Kapazitäten zu erweitern als auch unseren Willen zum Handeln zu bekräftigen. Wir müssen uns daher auf das konzentrieren, was uns vereint und weiterhin das notwendige gegenseitige Vertrauen zwischen uns aufbauen. Dies kann nicht nur die Agenda eines einzigen Landes oder einer Handvoll Länder sein. Und die Grundlage dafür ist die Entwicklung einer gemeinsamen Strategiekultur, einer gemeinsamen Wahrnehmung von Bedrohungen, denen wir ausgesetzt sind.Genau darum geht es im sogenannten Strategischen Kompass: Er wird einen strategischen Ansatz für unsere Sicherheit und Verteidigung festlegen, der als Richtschnur für unser Vorgehen bis 2030 dienen wird. Er wird eine Richtung vorgeben: Wie wir die erforderlichen Verteidigungskapazitäten erweitern und strategische Lücken schließen sollten und wie wir die Bekämpfung hybrider Bedrohungen und den Schutz der Interessen der EU im Cyberraum, maritimen Raum und Weltraum stärker in den Fokus rücken und Ergebnisse erzielen sollten. Er wird ebenfalls ehrgeizigere Partnerschaften in diesen Bereichen vorschlagen. Führungsspitzen beauftragten mich damit, im November einen ersten Entwurf des Kompasses vorzulegen und ich sprach mich für ein hohes Maß an Ehrgeiz aus.
- Viele Führungsspitzen betonten zu Recht, dass die transatlantische Partnerschaft unersetzlich ist und bleibt. Auf der Grundlage eines ehrgeizigen Strategischen Kompasses und einer neuen gemeinsamen Erklärung der EU und NATO, die in den kommenden Monaten veröffentlicht werden sollte, müssen wir die transatlantischen Beziehungen ausbauen und festigen. Wie in den vergangenen Jahren jedoch wiederholt erklärt und durch jüngste Entwicklungen demonstriert wurde, einschließlich des Rückzugs aus Afghanistan und des AUKUS, erwarten unsere US-amerikanischen Freundinnen und Freunde von uns in Europa, dass wir mehr Verantwortung tragen – für unsere eigene Sicherheit und die der Welt. Ich werde kommende Woche nach Washington reisen, um meine Gespräche darüber mit US-Außenminister Blinken und weiteren Gesprächspartnern fortzusetzen. Es ist wichtig, dass unsere Gespräche mit der neuen US-amerikanischen Regierung einen anderen und sehr konstruktiven Weg einschlagen.Neben der Notwendigkeit, unsere Kapazitäten zu erweitern und unseren Willen zum Handeln zu bekräftigen, haben jüngste Entwicklungen ebenfalls die Notwendigkeit eines kohärenten strategischen Ansatzes zum indopazifischen Raum verdeutlicht. Dies umfasst die Frage, wie wir mit China umgehen und wie wir unsere Beziehungen zum Rest einer Region ausbauen, die das Weltgeschehen im 21. Jahrhundert prägen wird.
- Was China anbelangt, haben sich unsere Führungsspitzen darauf geeinigt, dass wir unserem Ansatz auf der Grundlage des Dreiklangs „Partner, Wettbewerber, Rivale“ treu bleiben müssen. Bei der praktischen Umsetzung besteht die Herausforderung meist darin, wie diese drei Elemente zu einem kohärenten Ganzen vereint werden können. Für mich steht fest, dass wir mit China am besten von einer Position der Einheit und Stärke heraus zusammenarbeiten. Wir müssen den Dialog und die Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen wie der Klimapolitik fördern. Wir sollten jedoch auch bereit sein, sie in die Schranken zu weisen, wenn die Entscheidungen Chinas unseren Ansichten zuwiderlaufen, insbesondere in Bezug auf Menschenrechte und geopolitische Entscheidungen. Diesen Standpunkt habe ich auch vergangene Woche gegenüber Außenminister Wang Yi im Rahmen des strategischen Dialogs zwischen der EU und China vertreten.
- Gleichzeitig müssen wir unsere Zusammenarbeit in und mit der indopazifischen Region auf der Grundlage unserer kürzlich verabschiedeten Strategie vertiefen. Zur Erinnerung: 40 % des EU-Außenhandels wird über das Südchinesische Meer abgewickelt und 60 % des globalen Wachstums entfallen auf diese Region. Die EU ist ebenfalls weiterhin der größte Investor in der Region (nicht China, wie viele glauben), daher müssen wir einen großen Anteil und Beitrag leisten.
Die Herausforderung des indopazifischen Raums und eines aufstrebenden Chinas erfordert mehr Koordinierung und weniger Fragmentierung. Mit unserer Strategie für den indopazifischen Raum wollen wir unsere Bereitschaft signalisieren, mit China zusammenzuarbeiten, wenn dies sinnvoll ist, Beziehungen diversifizieren (die Zusammenarbeit u. a. mit Japan, Indien, Südkorea und dem Verband südostasiatischer Nationen vertiefen) und unsere Haltung anpassen (über den Handel hinaus auch in Bezug auf die Sicherheitskooperation, einschließlich der vorgeschlagenen maritimen Präsenz). Der indopazifische Raum ist ein wesentlicher geostrategischer Schauplatz und wir müssen präsent sein.
Die Debatte über die globale Rolle Europas hat eine kritische Phase erreicht. Dies wird von Deutschen als Chefsache bezeichnet: Eine Frage, mit der sich EU-Führungsspitzen wie Präsidentinnen und Präsidenten sowie Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten auseinandersetzen müssen. Wichtige Trends und Entscheidungen zwingen uns zum Handeln. In den kommenden Monaten haben wir die Chance, die Erkenntnis, dass Europa nicht nur eine Statistenrolle spielen darf, in konkrete Maßnahmen umzusetzen. Die Welt wartet nicht auf uns.
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