Die wachsende Bedeutung Zentralasiens – weltweit und für die EU
„Zentralasien steht in diesen Tagen sowohl unter geostrategischen als auch unter geoökonomischen Aspekten im Mittelpunkt des Geschehens.“
Seit Jahrhunderten schon hat Zentralasien als Bindeglied zwischen dem Fernen Osten und Europa durch den Waren- und Ideenfluss entlang der Seidenstraße eine Schlüsselrolle gespielt. Beziehungen müssen allerdings gepflegt und kontinuierlich an neue Gegebenheiten angepasst werden. In diesen Tagen steht Zentralasien sowohl unter geostrategischen als auch unter geoökonomischen Aspekten im Mittelpunkt des Geschehens.
Es ist offensichtlich, dass die Region bestrebt ist, ihre Beziehungen zu diversifizieren, und dass die EU als bevorzugter Partner betrachtet wird.
Wer nach Zentralasien reist, spürt eine neue Dynamik. Es liegt auf der Hand, dass Russland, aber auch China, in der Region bereits eine wichtige Rolle spielen und auch weiterhin spielen werden. Ebenso offensichtlich ist, dass die Region bestrebt ist, ihre Beziehungen zu diversifizieren und dass sie die EU als bevorzugten Partner betrachtet. Die Staats- und Regierungschefs in der Region haben verschiedene Reformprogramme in Angriff genommen. Darüber hinaus verbessern sich die Beziehungen zwischen den zentralasiatischen Ländern.
Als EU haben wir ein eindeutiges Interesse daran, diese Veränderungen für uns zu nutzen. Wir müssen unsere Beziehungen zu der Region vertiefen und das enorme Potenzial erschließen, das die Region in Bezug auf von Russland unabhängige Lösungen bezüglich Energieversorgung, kritische Rohstoffe und neue Verkehrskorridore (den sogenannten Mittelkorridor oder transkaspischen Korridor) zu bieten hat.
Glücklicherweise starten wir nicht bei Null. Es ist vermutlich nur wenigen Menschen bekannt, dass wir bereits der wichtigste Investitionspartner der Region sind. Auf die EU entfallen über 42 % des Gesamtbestands ausländischer Direktinvestitionen in Zentralasien; im Vergleich dazu beträgt der Anteil der Vereinigten Staaten 14,2 %, Russlands 6 % und Chinas 3,7 %. Darüber hinaus können wir auf beinahe 30 Jahre diplomatischer Beziehungen zurückblicken. In erster Linie müssen wir auf diesen Grundlagen aufbauen und neue Impulse geben, gleichzeitig müssen wir aber auch dem sich rasch wandelnden geopolitischen Kontext Rechnung tragen.
In die Zusammenarbeit zwischen der EU und Kasachstan investieren
Mein erster Besuch galt Kasachstan. Das Land hat 20 Millionen Einwohner und ist von der Fläche her fünf Mal so groß wie Frankreich. In unseren Beziehungen zeichnet sich eine positive Dynamik ab, von der auch der jüngste Besuch des Präsidenten des Europäischen Rates Michel und die von der Präsidentin der Europäischen Kommission von der Leyen unterzeichnete Vereinbarung über den Zugang zu Rohstoffen zeugen. Gemeinsam mit Staatspräsident Tokajew und dem stellvertretenden Premierminister und Außenminister Tileuberdi haben wir erörtert, wie wir diese Dynamik weiter verstärken können. Kasachstan ist ein wichtiger Partner für uns, nicht zuletzt als eine wichtige Quelle für Rohöleinfuhren (etwa 8 % unserer gesamten Einfuhren), aber auch als wichtiger Lieferant von Erdgas, Uran und anderen kritischen Rohstoffen.
In politischer Hinsicht hat Kasachstan verschiedene Reformen vorgenommen, die in die Richtung des politischen Pluralismus gehen. Die heutigen Präsidentschaftswahlen und die Parlamentswahlen im nächsten Jahr stellen in dieser Hinsicht wichtige Etappen dar. Es muss jedoch noch viel getan werden. Mein Treffen mit führenden Vertretern der Zivilgesellschaft bot eine gute Gelegenheit, aus erster Hand ihre Sicht der Dinge kennenzulernen und von der Arbeit zu erfahren, die sie mit Unterstützung der EU leisten.
Samarkand blickt auf eine lange Geschichte als Handelsplatz zurück und war schon lange, bevor wir anfingen, von „Global Gateways“ zu sprechen, ein „Gateway“ zwischen Ost und West.
Die zweite Station meiner Reise war Samarkand in Usbekistan, das das bei weitem bevölkerungsreichste Land der Region ist. Samarkand blickt auf eine lange Geschichte als Handelsplatz zurück und war schon lange, bevor wir anfingen, von „Global Gateways“ zu sprechen, ein „Gateway“ zwischen Ost und West. Usbekistan ist zudem die Geburtsstätte des Begriffs „Algorithmus“, eines Begriffs, dem wir jetzt so häufig in der Welt der IT und der sozialen Medien begegnen.
In Samarkand fand die 9. Ministertagung EU-Zentralasien statt, an der alle fünf zentralasiatischen Länder teilnahmen. Auf dieser Tagung haben wir die gesamte Bandbreite der uns betreffenden Themen erörtert. Wir waren uns darin einig, dass es eine neue Dynamik gibt, dass aber auch ein erhebliches unerschlossenes Potenzial besteht.
Im Zusammenhang mit dem Thema Sicherheit erörterten wir die Schockwellen, die durch die russische Invasion ausgelöst wurden. Aus offensichtlichen geografischen und historischen Gründen verfolgt die Region einen ausgewogenen Ansatz. Wir waren uns jedoch darin einig, dass die zentralen Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen (territoriale Unversehrtheit, Nichtanwendung von Gewalt usw.) geachtet werden müssen. Und natürlich geht es der Region darum, die negativen Auswirkungen von Russlands Krieg zu minimieren. Es versteht sich von selbst, dass auch die dramatische Lage in Afghanistan ein wichtiges Thema war. Dort verschlechtert sich die humanitäre Lage immer mehr, und das Verhalten der Taliban lässt keine Mäßigung erkennen.
Darüber hinaus haben wir den Zusammenhang zwischen Wasser, Energie und Klima erörtert und über direkte Kontakte zwischen den Menschen und die Rolle der EU bei der Unterstützung der Zusammenarbeit sowohl der zentralasiatischen Staaten untereinander als auch unserer Regionen gesprochen. Wir waren uns darin einig, dass wir einander in einer Welt des raschen Wandels brauchen. Wir werden uns im Hinblick auf die nächste Ministertagung EU-Zentralasien, die in Brüssel stattfinden soll, intensiv mit den Folgemaßnahmen befassen.
Der strategische Charakter der Konnektivität: Schnittmenge zwischen Politik und Technik
Bei allen Beratungen in Zentralasien stand das Modewort Konnektivität ganz oben auf der Tagesordnung. Dies leuchtet angesichts der strategischen Lage der Region zwischen Ost und West unmittelbar ein. Dennoch sind allgemein betrachtet die bestehenden Verkehrs- und sonstigen Verbindungen unterentwickelt. Vielen zentralasiatischen Ländern fehlt es an Möglichkeiten, Zugang zu den europäischen und den globalen Märkten zu erlangen, ohne den Weg über Russland wählen zu müssen oder sich von Russland abhängig zu machen. Genau wie wir sind auch diese Länder an weiteren, zusätzlichen Möglichkeiten und Verbindungen interessiert.
Konnektivität ist letztlich eine Kombination aus Politik und Technik. Dabei geht es darum, Grenzen, die Narben der Geschichte sind, zu überwinden, indem materielle und immaterielle Infrastruktur geschaffen wird, beziehungsweise die Verbindungsadern für Personen-, Güter-, Dienstleistungs- und Gedankenströme geschaffen werden.
Wie dies in der Praxis geschehen soll, stand im Mittelpunkt der Konferenz EU-Zentralasien über Konnektivität: Global Gateway, an der politische Führungsspitzen der Region, die EU, Finanzinstitutionen und die Wirtschaft teilnahmen.
In meiner Rede habe ich das große Potenzial herausgestellt, das eine engere Verbindung unserer beiden Regionen – und damit unserer Bevölkerung – birgt. Letztlich ist Konnektivität eine Kombination aus Politik und Technik. Dabei geht es darum, Grenzen, die Narben der Geschichte sind, zu überwinden, indem materielle und immaterielle Infrastruktur geschaffen wird beziehungsweise die Verbindungsadern für Personen-, Güter-, Dienstleistungs- und Gedankenströme geschaffen werden.
Dies mag abstrakt klingen. Aber mithilfe der Strategie „Global Gateway“ der EU und der im Rahmen dieser Strategie bereitgestellten globalen Finanzierung, die sich voraussichtlich auf 300 Mrd. EUR belaufen wird, und wenn wir einem wirklichen „Team Europe“-Konzept folgen, können wir auf nachhaltige Weise erreichen, dass große Worte zu konkreten Maßnahmen werden.
Die regelbasierte internationale Ordnung gibt Staaten Sicherheit und Menschen Freiheit, Unternehmen stützen darauf ihre Investitionsbereitschaft.
Damit Handel und Investitionen florieren können, brauchen wir solide Regeln und das Völkerrecht, und beides muss geachtet werden. Was wir als regelbasierte internationale Ordnung bezeichnen, gibt Staaten Sicherheit und Menschen Freiheit, und Unternehmen stützen darauf ihre Investitionsbereitschaft. Deshalb habe ich gesagt, dass wir alle uns für diese Ordnung einsetzen müssen, wenn sie bedroht ist – und das ist heute der Fall.
Eine weitere zentrale Botschaft war, dass wir in Europa, wie unsere zentralasiatischen Partnerländer auch, die Notwendigkeit sehen, strategisch unabhängiger zu werden, sodass wir frei entscheiden können, wie und mit wem wir Verbindungen aufbauen. Es ist gut, über Verbindungen und über Optionen zu verfügen, denn übermäßige Abhängigkeiten und fehlende Wahlmöglichkeiten können uns teuer zu stehen kommen, wie wir im Zusammenhang mit Energie und Russland am eigenen Leib erfahren mussten.
Ich hatte den Eindruck, dass die Konferenz ein grundlegender Moment in Bezug auf die konkreten Lösungen sein könnte, die in Frage kommen, um die Konnektivität innerhalb unserer beiden Regionen und zwischen unseren beiden Regionen voranzubringen.
Die EBWE erstellt derzeit eine Studie über nachhaltige Verkehrskorridore zwischen Europa und Zentralasien, in der untersucht wird, wie Engpässe überwunden werden können. Dabei geht es sowohl um materielle Grundlagen, wie Eisenbahnen, die aufgrund unterschiedlicher Spurweiten nicht interoperabel sind, oder fehlende logistische Kapazitäten bei Schiffen und Häfen, als auch um immaterielle Grundlagen, wie Zollverfahren. Es bestehen sicherlich reale Hindernisse, aber es gibt auch ein gemeinsames Engagement und ein gemeinsames strategisches Interesse, diese Hindernisse zu überwinden, auch mit der Unterstützung durch die EU, die EBWE und die EIB.
Auf der Konferenz hatte ich auch Gelegenheit, zwei „Team Europa“-Initiativen auf den Weg zu bringen, die speziell an den zentralasiatischen Raum gerichtet sind:
- Eine dieser Initiativen bezieht sich auf Wasser, Energie und Klimawandel, um die Region bei der Bewältigung der zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels und bei einer besseren Wasserbewirtschaftung zu unterstützen,
- die andere auf die Verbesserung der digitalen Konnektivität innerhalb der Region und mit Europa, unter anderem auch durch Satellitenverbindungen.
Wie bei dieser Art von Veranstaltungen üblich, sind nicht nur die Veranstaltung an sich, die dort gehaltenen Vorträge und die dabei geknüpften persönlichen Kontakte zwischen den Teilnehmern wichtig, sondern auch die Maßnahmen, die im Anschluss daran getroffen werden. Die Schlusserklärung enthält zahlreiche wichtige gemeinsam eingegangene Verpflichtungen, denen nun Folge geleistet werden muss. Ich werde meinerseits mit meinen Kollegen bei der Kommission und mit den Mitgliedstaaten der EU zusammenarbeiten, um dafür zu sorgen, dass diese Veranstaltung keine einmalige Sache bleibt, sondern damit eine neue Dynamik in Gang gesetzt wird.
Abschließend habe ich auch den Staatspräsidenten Usbekistans Mirziyoyev in Taschkent getroffen. Wir haben alle strategischen Fragen erörtert, die bei meiner Reise in die Region im Vordergrund standen. Das Treffen war ein guter Abschluss meiner Reise. Wir haben über Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen sowie über die zunehmende Instabilität in Afghanistan gesprochen. Wir sprachen aber auch über das große Potenzial, das unsere bilateralen Beziehungen bergen, sowie über die Aufwärtsdynamik, von der die Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien gekennzeichnet sind, und insbesondere auch über den strategischen Charakter unserer Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Konnektivität.
Ich kehre von dieser Reise mit dem Gefühl zurück, dass wir aufgrund der Veränderungen in der geopolitischen Landschaft – der Fall von Kabul und der Krieg gegen die Ukraine – sehr viel mehr in unsere zunehmend wichtigen Partnerschaften in und mit Zentralasien investieren müssen.
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