Die Ordnung Europas neu denken
„Die Europäische Politische Gemeinschaft hat zum Ziel, die Ordnung Europas insgesamt neu zu denken und umzugestalten, über die Arbeit der EU und der NATO hinaus.“
In der vergangenen Woche hat Präsident Putin die russische Elite aus Politik und Sicherheitsbereich im Kreml versammelt, um den vollständig illegalen Landraub zu feiern, mit dem vier Regionen der Ukraine gewaltsam durch Russland annektiert wurden. Dies erfolgte im Anschluss an die Scheinreferenden, bei denen oftmals nur eine Handvoll Menschen, die schon vor dem Krieg dort gelebt hatten, abgestimmt haben – unter vorgehaltener Waffe.
Putin erklärte erneut, dass die Annexion von etwa 20 % des ukrainischen Hoheitsgebiets „unumkehrbar“ sei, und spielte dabei offen auf den Einsatz von Kernwaffen zur Verteidigung russischen Territoriums an (wobei er sagte, die Vereinigten Staaten hätten 1945 mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki bereits einen Präzedenzfall geschaffen). Der ukrainische Präsident Selenskyj sprach in derselben Nacht für viele, als er die Annexion zu Recht als widerrechtlich und nicht hinnehmbar verurteilte. Er fügte hinzu, dass die Ukraine ihren Kampf um die Befreiung „des gesamten derzeit besetzten Gebiets“ fortsetzen werde. Auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen Guterres verurteilte die Annexion rasch und unmissverständlich. Am folgenden Tag stimmte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kein Land mit Russland ab, wohingegen eine deutliche Mehrheit für eine Verurteilung des Landes stimmte (erwartungsgemäß enthielten sich China, Indien, Brasilien und Gabun der Stimme).
Als EU haben wir deutlich gemacht, dass wir die Annexion niemals anerkennen und uns von den Drohungen und den Eskalationsschritten Russlands nicht einschüchtern lassen werden. Im Gegenteil, wir werden unsere Strategie zur militärischen, finanziellen und politischen Unterstützung der Ukraine verstärken, den Druck auf Russland durch weitere Sanktionen erhöhen und unsere internationalen Partner dabei unterstützen, die Folgen des Krieges zu bewältigen. Ich hoffe, dass wir auf der nächsten Tagung des Rates (Auswärtige Angelegenheiten) am 17. Oktober unsere Ausbildungsmission für die ukrainischen Streitkräfte offiziell ins Leben rufen können. Gleichzeitig sind wir nach wie vor bereit, eine diplomatische Lösung anzustreben, sofern die Umstände sich so ändern, dass dies wieder auf sinnvolle Weise möglich ist.
Eine Rede voller eingebildeter Kränkungen, die einen Dialog unmöglich macht
Einerseits fühlt sich dies alles vertraut an, da Putin bei der Annexion der Krim 2014 ähnlich vorgegangen ist (Anwendung nackter Gewalt, ein erzwungenes Referendum, auf das eine großartige Zeremonie folgte, um die Annexion als vollendete Tatsache durchzusetzen). Andererseits fühlten sich die Ereignisse der letzten Woche auch anders an. Putin ist nun mit Niederlagen auf dem Schlachtfeld, einer wachsenden Opposition im eigenen Land und einer zunehmenden Isolation im Ausland konfrontiert. Seine Rede und die darin geäußerten Ansichten waren ein fast surrealer Cocktail aus wilden Drohungen, Verschwörungsgedanken und eingebildeten Kränkungen. Sie erweckte den Eindruck eines Mannes, der so isoliert ist, dass er in seiner empfundenen Opferrolle versinkt, und der den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat.
Sein zentraler Feind war nicht länger eine Ukraine, der jedes Existenzrecht abgesprochen wird und die von Nazis regiert wird. Nein, sein Hauptziel war der „kollektive Westen“. Er prangerte „den Totalitarismus, den Despotismus und die Apartheid“ des heutigen Westens an, der Russland zu „einer Kolonie“ machen wolle. Seine Vorwürfe gegen den Westen reichten von der Bombardierung Dresdens über die Plünderung Indiens sogar bis hin zu geschlechtsangleichenden Operationen. Er ging so weit zu behaupten, im Westen habe „die Unterdrückung der Freiheit selbst die Charakterzüge einer Religion angenommen, die des unverhohlenen Satanismus“.
Putins Entscheidungen und seine Rede zeigen, dass er sich dem Dialog, der Diplomatie und einem Mindestmaß an gemeinsamer Menschlichkeit verschließt. Er treibt sein Land nur immer weiter in Krieg, Eskalation und Isolation. Und das ist sicherlich Anlass zur Sorge.
Putin, Gorbatschow und die Ordnung Europas
All dies zeigt, wie Russland über mehrere Jahre hinweg vom Rest Europas abgerückt ist. Putins gefährliches und verblendetes Weltbild ist weit entfernt von den Vorstellungen beispielsweise des kürzlich verstorbenen Michail Gorbatschow. Wie Ivan Krastev in Erinnerung rief, hat Gorbatschow allen Europäern zwei russische Worte beigebracht: Glasnost und Perestroika (Offenheit/Transparenz und Umbau/Umgestaltung). Von Putin hingegen wird nur ein Wort im Gedächtnis bleiben: Silowiki, „Macht-Männer“ .
Gorbatschow spielte eine zentrale Rolle bei der Beendigung des Kalten Krieges und schlug ein „gemeinsames Haus Europa“ vor, das auf der Grundprämisse der gemeinsamen Sicherheit und der gleichen Rechte für alle Staaten basierte. Die Reaktion auf diese Gedanken und die Debatten darüber sind Geschichte – und wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Allerdings werden Historiker und Andere weiterhin über diese Zeit debattieren, und auch über die Lehren, die wir daraus ziehen müssen, wie wir mit dem Ende des Kalten Krieges umgegangen sind. Dazu gehört die Frage, wie der Westen anders hätte handeln können.
Jetzt befinden wir uns erneut in einer neuen Phase der Geschichte. Russland hat einen brutalen Angriff auf die Grundpfeiler der seit dem Ende des Kalten Krieges bestehenden europäischen und internationalen regelbasierten Sicherheitsordnung gestartet. In absehbarer Zukunft und möglicherweise so lange, wie Putin an der Macht ist, ist es unmöglich, sich eine neue Sicherheitsordnung oder „Friedensarchitektur“ in Europa mit Putins Russland, das wieder gemeinsame Grundsätze achtet, als zentralem Bestandteil vorzustellen. Russland bleibt ein geografischer Nachbar und ein Mitglied des internationalen Systems – aber gegenwärtig müssen wir eine europäische politische Gemeinschaft ohne Putins Russland aufbauen.
Europa als Ganzes und die Europäische Politische Gemeinschaft
Dennoch müssen wir die Ordnung Europas als Ganzes über die Arbeit der EU und der NATO als solche hinaus neu denken und umgestalten. Wir befinden uns mitten in aktiven Beratungen darüber, wie die politische Ordnung Europas gestaltet werden soll. Ausgelöst wurden diese Beratungen zum Teil durch den Aufruf von Präsident Macron vom 9. Mai zur Gründung einer „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ In den letzten Wochen und Monaten gab es eine Vielzahl von Vorschlägen und Analysen seitens führender Politikerinnen und Politiker und des gesamten Spektrums der europäischen Denkfabriken zu diesem Thema.
Nach ersten Beratungen im Europäischen Rat wird die konstituierende Sitzung der Europäischen Politischen Gemeinschaft am 6. Oktober in Prag stattfinden. Die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten der EU werden ebenso daran teilnehmen wie diejenigen aller EU-Beitrittskandidaten sowie Norwegens, Islands, Liechtensteins, der Schweiz, des Vereinigten Königreichs und Georgiens, Armeniens und Aserbaidschans, sodass insgesamt 44 Staats- und Regierungschefs ihre Länder vertreten werden.
Es wird sich um eine halbtägige Veranstaltung handeln, die angesichts der großen Teilnehmerzahl lediglich einen ersten Gedankenaustausch erlauben wird. Es gibt noch eine Reihe offener Fragen: Was soll der eigentliche Daseinsgrund der Europäischen Politischen Gemeinschaft sein, welche Länder sollen letztlich dazugehören, wie sollen ihre Beziehungen zur EU aussehen? Und wie soll sie in der Praxis funktionieren?. Wie soll beispielsweise die Beschlussfassung erfolgen, und soll sie über einen eigenen Haushalt verfügen?
Zwar sind noch viele Aspekte zu klären, für mich ist aber einiges klar:
- Die Europäische Politische Gemeinschaft kann keine Alternative zur Erweiterung der EU (d. h. kein Ersatz für eine EU-Vollmitgliedschaft) sein.
- Sie muss einen Mehrwert für die bestehenden Einrichtungen und Formate, etwa die OSZE, den Europarat und EU-Rahmen wie die Östliche Partnerschaft, schaffen.
- Sie sollte eine Gemeinschaft gemeinsamer Grundsätze sein (auch wenn uns allen bewusst ist, dass diese Grundsätze von Land zu Land in unterschiedlichem Maße gewahrt werden ...).
- Sie sollte keinen schwerfälligen organisatorischen Aufbau haben, es kann sich aber nicht nur um ein Versammlungs- und Gesprächsgremium handeln – die Gemeinschaft muss handeln können und nicht nur reden. In allen Bereichen, über die die Führungsspitzen in Prag beraten werden (Sicherheit, Energie/Klima, Migration), könnten konkrete Projekte durchgeführt werden, um auf dem gesamten Kontinent die Widerstandsfähigkeit zu stärken.
Für die weiteren Gespräche kann zumindest auf dieser gemeinsamen Grundlage aufgebaut werden. Nutzen wir die Zeit bis zum nächsten Treffen, um dieses wichtige neue politische Unterfangen weiter auszugestalten.