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Der Corona-Marathon der EU: Handeln in allen Bereichen

19/04/2020 - Das Corona-Virus hat Europa nun seit mehr als einen Monat im Griff. Bei allen Anstrengungen, mit denen wir jeden Tag darauf hinarbeiten, die verschiedenen Aspekte der Krise zu meistern, täten wir gut daran, mal einen Schritt zurückzutreten und darüber nachzudenken, was das Leben mit COVID-19 für unseren Alltag, für Europa, für die ganze Welt bedeutet und wie es sich auf unsere Gesellschaft auswirken wird.

 

Diese Zeit ist eine Bewährungsprobe. Wir müssen Solidarität unter uns Europäern und weltweit beweisen. Nach einem wackeligen Start handeln wir jetzt in allen Bereichen.

Wie viele andere habe ich diese Wochen abgekapselt zu Hause oder in verlassenen Büros in Brüssel verbracht, und meine Kontakte auf verschiedene Videokonferenzen oder Telefonanrufe beschränkt. Das ist besser als nichts, aber auch frustrierend, weil bei Telefongesprächen und sogar Videokonferenzen eine wesentliche Voraussetzung dafür fehlt, dass Diplomatie funktioniert: die zwischenmenschliche Interaktion. Um Vereinbarungen zu treffen, müssen Sie Menschen in die Augen sehen, in direkten Kontakt mit ihnen treten und sich zu Gesprächen unter vier Augen zurückziehen können. Multilaterale Diplomatie innerhalb der EU und weltweit ist schon unter optimalen Bedingungen schwierig. Umso mehr, wenn Vertrauen – diese magische und unverzichtbare Grundlage für Kompromisse zwischen Menschen – über eine Videoverbindung mit schlechter Tonqualität geschaffen werden muss. Andererseits sind Videokonferenzen für manche Sitzungen ausreichend. Und sie sparen sicherlich viel Zeit und Geld.

Bewährungsprobe

Zweifellos ist diese Zeit eine Bewährungsprobe oder vielleicht sogar existenzgefährdend für die EU. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Europäer den Nutzen ihrer Union erkennen und spüren. Wir wissen, dass dies nicht immer der Fall war und die europäischen Institutionen Herz und Verstand der Bürger für sich einnehmen müssen. Präsidentin Ursula von der Leyen entschuldigte sich zu Recht in dieser Woche im Namen der EU im Europäischen Parlament bei all denjenigen, vor allem in Italien und Spanien, die sich im Stich gelassen fühlten mit Problemen wie überfüllten Krankenhäusern, fehlender, medizinischer Ausrüstung und Schutzausrüstung und einer steigenden Opferzahl um täglich fast 1000 Tote pro Land.

So wie die EU aufgebaut ist, überrascht es nicht, dass ganz zu Beginn der Krise nationale Entscheidungen Vorrang hatten. Gesundheitspolitik fällt in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, und die Kapazitäten für rasche Durchführungsmaßnahmen sind auf nationaler Ebene viel größer als auf europäischer Ebene. Für viele Europäer war dies dennoch enttäuschend. Es erweckte den Eindruck einer zögerlichen und uneinigen EU, die den Menschen in der Stunde, in der sie am dringendsten gebraucht wird, wenig konkrete Solidarität zu bieten hat. Diese Wahrnehmung mag ungerecht oder unvollständig sein. Aber sie hat reale Folgen. Einige Kritiker Europas, innerhalb und außerhalb der EU, haben sich auf diese kritische erste Phase der Krise gestürzt und bedenkenlos Öl ins Feuer gegossen.  

Die interne Reaktion der EU

Recht bald lief dann jedoch eine zweite Phase an, in der gemeinsame Entscheidungen über die Aufrechterhaltung des Warenverkehrs trotz geschlossener Grenzen und die gemeinsame Beschaffung medizinischer Ausrüstung getroffen wurden. Wenn Menschen von „der EU“ sprechen oder sie kritisieren, sollte klar sein, was genau sie meinen. Die Kommission hat mit den ihr zur Verfügung stehenden Instrumenten alles in ihrer Macht Stehende getan und die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts unverzüglich ausgesetzt, um den Mitgliedstaaten mehr Möglichkeiten für den Einsatz staatlicher Beihilfen zu geben. Auch die Europäische Zentralbank reagierte sehr schnell – viel schneller als während der Euro-Krise – und stellte mehr als 750 Mrd. EUR für den Ankauf von Schuldtiteln bereit, wobei sie die Ankäufe dorthin lenkte, wo sie am dringendsten benötigt werden. Die Kommission hat zudem vorgeschlagen, für die Mitgliedstaaten Darlehen in Höhe von 100 Mrd. EUR bereitzustellen, um sie bei der Finanzierung von Beschäftigungsschutzprogrammen zu unterstützen. Dies ist noch keine ergänzende Arbeitslosenversicherung auf europäischer Ebene, aber ein wichtiger Schritt angesichts einer drohenden Massenarbeitslosigkeit.

In diesen Tagen wird häufig ein „Marshallplan“ als Inspirationsquelle für Wiederaufbaumaßnahmen gefordert. Aber wir wissen natürlich, dass uns kein George Marshall von der anderen Seite des Atlantiks zu Hilfe kommt. Außerdem war dieser Plan damals auf den Wiederaufbau eines vom Krieg zerstörten Kontinents ausgerichtet. Auch wenn die Pandemie von einigen mit einem Krieg verglichen wird, geht sie nicht mit der Vernichtung von Sachkapital einher. Nach einem Erdbeben müssen die Infrastruktur und Produktionskapazitäten wieder aufgebaut werden. Darum geht es hier nicht. Wir müssen uns jetzt vorrangig auf den dringenden Bedarf der Gesundheitssysteme konzentrieren, auf Leistungen für diejenigen, die nicht mehr arbeiten dürfen, und auf die Ausweitung von Garantien und die Gewährung von Zahlungsaufschub für Unternehmen, um Insolvenzen zu vermeiden.

Die Europäische Investitionsbank (EIB) wird insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen Darlehen in Höhe von 200 Mrd. EUR anbieten. Zusätzlich werden auch über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) Darlehen zu Zinssätzen nahe Null mit langfristigen Rückzahlungsbedingungen zur Finanzierung von direkt oder indirekt durch die Pandemie verursachten Ausgaben bereitgestellt, die nicht an besondere Auflagen gebunden sind. Darüber hinaus müssen wir die Entwicklung neuer, zusätzlicher Instrumente in Betracht ziehen.  Im Mittelpunkt steht die Frage, wie und in welchen Grenzen wir Europäer uns untereinander solidarisch erweisen. Dabei geht es nicht nur um Solidarität auf makropolitischer Ebene; denn es gibt bereits konkrete Beispiele für Solidarität innerhalb der EU: Frankreich, Österreich, Tschechien und andere Mitgliedstaaten haben Millionen Masken nach Italien und Spanien gesendet. Dies waren deutlich mehr Masken als Russland oder China versendet haben, auch wenn natürlich alle Hilfsleistungen willkommen sind. Patienten werden in den Krankenhäusern anderer Mitgliedstaaten behandelt und dafür Ärzteteams aus Rumänien und anderen EU-Staaten eingeflogen. Diese pan-europäische Krise wird also von den Menschen auch als solche wahrgenommen, was sich vor allem in den sozialen Medien widerspiegelt, in denen ermutigende Geschichten geteilt werden. Sie macht deutlich, dass ein europäisches Bewusstsein existiert, auch wenn wir dieses Bild noch festigen und unser Handeln genauer und besser erklären müssen.  

Die außenpolitische Reaktion der EU

Im Außenbereich haben wir im Rahmen von Videokonferenzen mit den EU-Ministern für auswärtige AngelegenheitenVerteidigung und Entwicklung gemeinsame Maßnahmen mit mehreren Handlungsschwerpunkten vereinbart: Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten bei der bisher größten Rückholaktion, um mehr als eine halbe Million gestrandete Europäer nach Hause zurückzubringen. Wir sind übereingekommen, auch unsere militärischen Kapazitäten in vollem Umfang für die Bekämpfung des Virus und seiner Folgen einzusetzen und gemeinsam entschieden gegen Desinformation vorzugehen.

Oberste Priorität wurde der Ausarbeitung eines gemeinsamen europäischen Konzepts für die Unterstützung der schwächsten und am stärksten betroffenen Menschen‚ insbesondere in Afrika, aber auch in unserer Nachbarschaft und anderen Teilen der Welt eingeräumt. Zwar besteht auch in der EU ein enormer Hilfebedarf, dennoch ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir anderen helfen. Nicht nur aus Solidarität, sondern weil es in unserem eigenen Interesse liegt, dass der Kampf gegen COVID-19 weltweit erfolgreich ist. Sicherheit vor dem Virus gibt es für uns nur, wenn auch unsere Nachbarn vor dem Virus geschützt sind.

Deshalb haben wir Mittel aus dem EU-Haushalt neu ausgerichtet und zusammen mit Darlehen der EIB und der EBWE und Beiträgen der Mitgliedstaaten ein Paket von 20 Mrd. EUR geschnürt, um unsere Partner bei der Bewältigung der Pandemie zu unterstützen. Dabei handelt es sich also nicht um frisches oder neues Geld. Sondern darum, den dringendsten Bedürfnissen Vorrang einzuräumen. Genau das haben wir mit dem neuen Konzept „Team Europe“ getan, bei dem die Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen zusammenarbeiten. Es wird künftig zum Einsatz kommen.

Die weitreichenden Folgen der COVID-19-Krise

Die ersten Wochen der Krise brachten die politischen Entscheidungsträger an ihre Grenzen. In einer komplexen, dringlichen und unsicheren Lage mussten sie 100 % ihrer Entscheidungen anhand von 50 % der Informationen treffen. Positiv ist, dass die Menschen Vertrauen in Wissenschaft und Fachwissen sowie Interesse an hochwertigem Journalismus gezeigt haben. Dennoch schüren Populisten weiterhin Ängste und verbreiten ihre nationalistischen Slogans. Eine faktengestützte Politik und Zusammenarbeit sind jedoch nachweislich der beste Weg, um die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten.

Mit jedem weiteren Tag lernen wir mehr über das Virus und können effizienter dagegen vorgehen. Die Anzahl der Todesopfer ist dramatisch, aber die Maßnahmen beginnen zu wirken. Die Krankenhauseinweisungen und Intensivbehandlungen gehen zurück. Zwar nur langsam, aber sie sinken. Nach der Phase der unmittelbaren Krisenbewältigung wird es als Nächstes darum gehen, wie wir die Ausgangsbeschränkungen lockern und eine wirtschaftliche Erholung einleiten können. Dieser Weg ist lang und schwierig, aber wir wissen heute mehr als zu Beginn der Krise. In dieser nächsten Phase ist eine abgestimmte Reaktion erforderlich – in Europa und auch weltweit.

Die Bekämpfung des Corona-Virus hat eine intensive Debatte über die Vorteile verschiedener Modelle in verschiedenen Ländern und Regionen ausgelöst. Dani Rodrik hat dazu angemerkt, dass die Krise die jeweiligen Trends verstärkt, sodass sich Länder und Regionen zu „übertriebenen Zerrbildern ihrer selbst (externer Link)“ verwandeln würden. In der Tat haben wir bei vielen miterlebt, wie sie ihre eigenen Ideologien auf die Krise projiziert haben.

Höchstwahrscheinlich beschleunigt die Krise die Geschichte durch die Verstärkung bereits bestehender Trends. Dies bedeutet insgesamt mehr geopolitischen Wettbewerb und größere Spannungen zwischen den USA und China. Das wird sich wiederum darauf auswirken, in welchem Umfang eine kooperative und multilaterale Reaktion möglich sein wird, bei der die Vereinten Nationen und die G20 im Mittelpunkt stehen. Es wird vor allem die Aufgabe Europas und anderer gleichgesinnter Partner sein, hierbei eine Führungsrolle zu übernehmen: die dringend benötigte multilaterale Reaktion voranzutreiben, bekannt zu machen und zu stärken; alle bestehenden multilateralen Instrumente zu mobilisieren und bei Bedarf anzupassen sowie den Aufbau neuer und besserer Instrumente ins Auge zu fassen.

Da wir in die nächste Phase eintreten, ist es wichtig, tiefergehende Fragen zu stellen. Welche Rolle kommt dem Staat bei Interventions- und Schutzmaßnahmen im Rahmen der Erholung nach der Krise zu? Wie wirkt sich die Krise auf den bisherigen Prozess der wirtschaftlichen Globalisierung aus? Eine vollständige „Entglobalisierung“ erscheint unwahrscheinlich, aber wir müssen sicherlich mehr Gewicht auf Sicherheit – und dabei vor allem Gesundheit – legen, d. h. Reserven mit strategischem Material bilden und kürzere und stärker diversifizierte Lieferketten schaffen. All dies wird Bestrebungen, mit der strategischen Autonomie Europas ernst zu machen, neue Impulse verleihen.

Wir müssen uns auch eingehend mit den Folgen für unsere demokratischen Systeme auseinandersetzen. Die Krise könnte genutzt werden, um die Macht zu zentralisieren und die demokratischen Kontrollen zu schwächen – und wir sollten uns dagegen wappnen. Wir sollten klarstellen, dass die widerstandsfähigste Regierungsform ein System mit Kontrolle und Gegenkontrolle ist, bei dem den Bürgern Befugnisse und keine Anweisungen erteilt werden. Es wird ein Balanceakt, einerseits die Wahrung der demokratischen Werte, der Rechte und Freiheiten des Einzelnen und andererseits die notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus und zur schrittweisen Lockerung der Ausgangsbeschränkungen sicherzustellen. In diesem Zusammenhang ist es ermutigend, dass europäische Wissenschaftler bei der Entwicklung von Ortungstechnologien zusammenarbeiten, die mit dem Datenschutz vereinbar sind.

Europa hat alle Kräfte mobilisiert

Die Bewältigung der Corona-Krise ist ein Marathon, kein Sprint. Diejenigen, die früh wie „Gewinner“ aussahen, könnten wenig später ins Stolpern geraten. Und umgekehrt. Nach einem wackeligen Start hat die EU nun in jeder Hinsicht alle Kräfte mobilisiert. Die Notwendigkeit von Solidarität und gemeinsamem Handeln wird auf dem gesamten Kontinent anerkannt. Und unser grundsätzliches Bekenntnis zu Multilateralismus und Partnerschaft findet weltweit Zustimmung.

Die Welt ist nach der Pandemie zwangsläufig stärker fragmentiert. Und viele Bedrohungen werden dann noch weiterbestehen. Ich werde den zweiten Monat, den wir mit der Corona-Krise leben, dazu nutzen, diese Bedrohungen anzugehen, hoffentlich mit der guten alten Diplomatie auf persönlicher Ebene, die dann wieder möglich ist.

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